Wer von uns Grünen hat in den vergangenen Monaten nicht schon laut geflucht über Sebastian Kurz, Gernot Blümel und die Tatsache, dass wir „mit denen“ in einer Koalition sind? Eben.
Aber ich denke, es ist wichtig, die Frage der persönlichen Sympathie zu trennen von den juristischen Vorwürfen, mit denen sich der Bundeskanzler seit einigen Tagen konfrontiert sieht.
Worum geht es also?
Sebastian Kurz hat, behauptet die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA), als Auskunftsperson im Ibiza-Untersuchungsausschuss in mehreren Fällen das Delikt „Falsche Beweisaussage“ (§ 288 StGB) begangen. Die Behörde leitet diesen Vorwurf aus den inhaltlichen Unterschieden zwischen Kurz’ Antworten im U-Ausschuss und seinen WhatsApp-Konversationen mit diversen Leuten ab und begründet die Aufnahme von Ermittlungen gegen Kurz sehr umfangreich und gründlich. Die Höchststrafe bei einem Vergehen nach § 288 StGB beträgt drei Jahre – und ein Vergehen, nur um das klarzustellen, ist kein Verbrechen.[1] Niemand wirft dem Kanzler ein Verbrechen vor.
Sebastian Kurz ist im Moment Beschuldigter in einem Strafverfahren. Es wird ihm also ein konkretes Delikt vorgeworfen; er ist nicht bloß ein Verdächtiger (bei dem überhaupt noch nicht klar sein muss, worin genau der Vorwurf besteht), aber er ist auch (noch; Kurz scheint von einer Anklage auszugehen, die Expert*innen sind wie so oft gespaltener Meinung) kein Angeklagter. Wir müssen damit rechnen, dass sich das Verfahren noch über mehrere Monate hinzieht, und das scheinbar schleppende Tempo hat seine guten Gründe.
Wie geht es weiter?
Jeder Beschuldigte hat ein Recht darauf, gehört zu werden. Die WKStA muss den Kanzler einvernehmen oder ihn zu einer schriftlichen Stellungnahme auffordern. Würde sie dies unterlassen und dennoch einen Strafantrag einbringen (also Anklage erheben), müsste der zuständige Einzelrichter den Antrag zurückweisen. Es ist also schon aus verfahrensrechtlichen Gründen ausgeschlossen, dass ein Strafantrag ohne vorherige Einvernahme des Beschuldigten eingebracht wird, auch wenn dies türkise Parteigänger*innen verschiedentlich behauptet haben.
Alle Staatsanwaltschaften, auch die WKStA, haben „über Strafsachen, an denen wegen der Bedeutung der aufzuklärenden Straftat oder der Funktion des Verdächtigen im öffentlichen Leben ein besonderes öffentliches Interesse besteht“ (§ 8 Abs 1 Staatsanwaltschaftsgesetz), der jeweils übergeordneten Oberstaatsanwaltschaft zu berichten. In diesem Vorhabensbericht hat die Staatsanwaltschaft darzustellen, wie sie weiter vorgehen will – ob sie also beabsichtigt, das Verfahren einzustellen, weiter zu ermitteln oder Anklage zu erheben bzw. einen Strafantrag einzubringen. Dabei ist die Behörde nicht völlig frei in ihrem Ermessen, es gilt vielmehr das Kriterium der Eintrittswahrscheinlichkeit: Ist eine Verurteilung wahrscheinlicher als ein Freispruch, muss die Staatsanwaltschaft Anklage erheben.
Die Oberstaatsanwaltschaft äußert sich zum Vorhabensbericht und leitet diesen an die Sektion V im Justizministerium (dieser Sektion stand, dies nur nebenbei, bis vor Kurzem der mittlerweile suspendierte Christian Pilnacek vor) weiter. Auch die Sektion V gibt eine Stellungnahme ab und übermittelt den Vorhabensbericht sodann an den Beirat für den ministeriellen Weisungsbereich (kurz Weisungsrat), der unter anderem immer dann eingeschaltet werden muss, wenn es sich „um Strafsachen gegen oberste Organe der Vollziehung (Art 19 B-VG: Bundespräsident, Bundesminister, Staatssekretäre und Mitglieder der Landesregierungen)“ handelt.[2] Der Weisungsrat ist organisatorisch an die Generalprokuratur angebunden und steht unter dem Vorsitz des Generalprokurators.
Das Gremium gibt eine Empfehlung an die Justizministerin ab, die am Ende dieses langen Prozesses die Entscheidung über den weiteren Verlauf des Verfahrens gegen Sebastian Kurz zu treffen hat. Es ist allerdings politisch nicht vorstellbar, dass Alma Zadic der Empfehlung des Weisungsrates zuwiderhandeln würde.
Vorsatz und Unschuldsvermutung
Es ist schwierig, den Vorsatz einer falschen Beweisaussage nachzuweisen, da der oder die Angeklagte, konfrontiert mit der faktischen Unwahrheit einer Aussage, jederzeit behaupten kann, sich eben geirrt zu haben. Freisprüche sind also in Verfahren nach § 288 StGB eher die Regel als die Ausnahme. Dazu kommt im Fall Kurz, dass die WKStA ihre Vorwürfe der falschen Beweisaussage unter anderem aus doppelten Verneinungen herleitet. Diese rhetorische Figur bietet aber immer Spielraum für Interpretationen. Denn nur weil ich nicht sage, dass etwas nicht so ist, bedeutet das nicht, dass ich sage, dass etwas so ist.
Wie für alle der österreichischen Justiz unterworfenen Menschen gilt auch für Sebastian Kurz die Unschuldsvermutung, und zwar bis zu einer allfälligen rechtskräftigen Verurteilung. Selbst ein erstinstanzliches Urteil ändert daran nichts – dies ist in der Kommunikation streng zu beachten. Würde irgendjemand Sebastian Kurz nach einem erstinstanzlichen Urteil als „schuldig“ bezeichnen, drohte ihm oder ihr ein medienrechtliches Verfahren. (Siehe dazu auch: https://www.derstandard.at/story/2000126707391/causa-kurz-anklage-und-anstand)
Und was heißt das jetzt politisch?
Seit die Grünen ins Justizministerium eingezogen sind, werden Ermittlungen gegen hochrangige Politiker*innen nicht mehr „daschlog’n“, wie der Vizekanzler mit Bezug auf den ehemaligen Sektionschef Christian Pilnacek zu sagen pflegt.[3] Die Politik mischt sich nicht ein und dreht potenziell heikle Verfahren nicht mehr ab. Werner Kogler hat als Justizministerin-Stellvertreter die Drei-Tage-Berichtspflicht abgeschafft, der zufolge Staatsanwaltschaften die jeweils zuständige Oberstaatsanwaltschaft drei Tage im Vorhinein von „bedeutenden Verfahrensschritten“ zu informieren hatten. Alma Zadić hat Pilnacek und Johann Fuchs von ihren Posten abgezogen. All diese Maßnahmen haben den – in der Vergangenheit immer wieder aufgetretenen – Verrat von Ermittlungsschritten an die Beschuldigten drastisch erschwert, wenngleich nicht gänzlich unmöglich gemacht, wie aus der Hausdurchsuchung bei Gernot Blümel ersichtlich wurde.
Doch wir Grünen, allen voran Justizministerin Alma Zadić, schützen die Unabhängigkeit der Justiz und sorgen dafür, dass die Ermittlungsbehörden ungestört arbeiten können. Niemand, auch nicht die Ministerin selbst, wird sich in laufende Verfahren einmischen oder diese kommentieren. Schlimm genug, dass wir eine solche rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit eigens erwähnen müssen.
Im Übrigen war es Alma Zadić, die den „stillen Tod der Justiz“ (Clemens Jabloner) verhindert hat. Sie hat erreicht, dass das Justizbudget um 165 Millionen € erhöht wurde, 255 neue Planstellen geschaffen, das Informationsfreiheitsgesetz – und mit ihm die Abschaffung des Amtsgeheimnisses – auf den Weg gebracht, die Gewaltenteilung in der inneren Organisation ihres Ministeriums wiederhergestellt und die Bundesbetreuungsagentur reformiert.
Schon allein diese Bilanz zeigt, finde ich, wie wichtig die Grünen in dieser Regierung sind.
Should we stay or should we go?
Regierungsarbeit ist mühsam. Sollte irgendjemand gehofft haben, das Dasein würde sich durch die Grüne Regierungsbeteiligung in eine himmlische Großkonditorei (danke, Heimito von Doderer) verwandeln, so wäre nun ein guter Zeitpunkt, diese Erwartungen zurückzuschrauben.
Wir alle führen gern die Gewaltenteilung und die Existenz einer freien, unabhängigen Medienlandschaft als „vierter Macht im Staate“ im Munde, wenn wir die Grundbausteine einer funktionierenden Demokratie benennen sollen. In einigen Mitgliedstaaten der EU, etwa in Polen oder Ungarn, ist die Gewaltenteilung de facto aufgehoben. Das Parlament ist unter Kontrolle; es wird geduldet, aber verachtet, die Justiz vereinnahmt, die Presse unter Druck gesetzt, gegängelt oder an Günstlinge verscherbelt. Und in der Tat lassen manche Vorkommnisse aus der jüngeren Vergangenheit den Verdacht aufkommen, dass auch wir in Österreich von solchen Zuständen nicht mehr allzu weit entfernt sind.
Diesem Anfangsverdacht müssen wir entschieden entgegentreten. Durch eine Aufwertung des Parlaments, durch gesetzliche Maßnahmen, die Transparenz und Offenheit befördern, durch den aktiven Schutz der Unabhängigkeit der Justiz, durch die Gewährleistung unabhängiger, unbeeinflusster Berichterstattung.
Gestalten ist mühselige, oft frustrierende Kleinstarbeit, weil wir dem Koalitionspartner jedes auch noch so minimale Zugeständnis unter großem Aufwand abringen müssen. (Mehr dazu hier: www.johannes-rauch.at/post/ein-jahr-in-der-bundesregierung)
Aber die Dinge geraten auf vielen Ebenen, die ich hier nicht alle aufzählen will, weil dieses Schreiben ohnehin schon viel zu lang ist, in Bewegung. Der Transformationsprozess ist im Gange, auch wenn manche ihn noch nicht erkennen können oder wollen.
Es ist offen, wie dieser Prozess angesichts der Verwerfungen – auch gesellschaftlich! –, die Corona mit sich gebracht hat, stattfinden wird; ob demokratische Verfasstheit, Rechtsstaatlichkeit und ein gutes Leben für alle anstelle immer größeren Reichtums für wenige sich durchsetzen werden; ob es gelingt, den Generationenvertrag über die Bewohnbarkeit des Planeten für die nächsten 100 oder 200 Jahre sicherzustellen.
Jetzt „rote Linien“ zu definieren, halte ich für abstrus. Wir werden die Grenzen erkennen, wenn sie da sind, und dann gemeinsam entscheiden, wie wir uns verhalten. So lange nehmen wir Verantwortung wahr, so gut wir es können.
Wer, wenn nicht wir, und wann, wenn nicht jetzt!?
[1] Die Unterscheidung richtet sich nach der Maximalhöhe des gesetzlich festgelegten Strafmaßes. Verbrechen sind vorsätzliche Handlungen, die mit lebenslanger oder mit mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht sind. Alle anderen strafbaren Handlungen sind Vergehen. [2] https://www.generalprokuratur.gv.at/der-weisungsrat/ (18.05.2021). [3] https://www.diepresse.com/5629029/daschlogts-es-anzeige-gegen-justizministeriums-generalsekretar-pilnacek (18.05.2021).
Mich interessiert, welche Falschaussagen die FPOe gemacht hat und wie die FPOe-netzwerke ausschauen.