Ein unfertiges, aber sogar ziemlich leiwandes Projekt.
Bevor Österreich der Europäischen Union beigetreten ist, fand dazu eine Volksabstimmung statt: im Juni 1994 sprachen sich 66,6% der Stimmberechtigten, bei einer Beteiligung von 82,3% für den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union aus.
Damit wurde nach einer emotionalen und auch sehr kontroversiellen Debatte eine klare Entscheidung getroffen, die auch demokratisch akzeptiert wurde, jedenfalls von den meisten: Der Souverän hat gesprochen!
Nun gab und gibt es an der Europäischen Union einiges zu kritisieren: an der Bürokratie und der oft schwierigen Entscheidungsfindung; an der asymmetrischen Machtverteilung (checks and balances) zwischen Rat, Kommission und Europäischem Parlament; am gescheiterten Versuch, eine europäische Verfassung zustande zu bekommen; an der Ungleichzeitigkeit von „Erweiterung“ und „Vertiefung“.
Die fehlende gemeinsame Außenpolitik. Das Machtgefälle zwischen der lange dominierenden deutsch-französischen Achse gegenüber den kleineren Mitgliedsstaaten. Der intensive Lobbyismus in Brüssel. Ja, und auch das Übergewicht der Waren-, Personen- und Niederlassungsfreiheit, der Währungsunion gegenüber einer gemeinsamen arbeits- und sozialpolitischen Agenda. Um all das wird auch weiterhin gestritten werden und zwar aus guten Gründen und mit Recht. Geschenkt.
Dennoch werden jetzt, im Jahr 2023, die geopolitischen Karten komplett neu gemischt. Nach einer dramatischen Pandemie und einem schrecklichen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, einer einschneidenden Energiekrise und mitten in der immer spürbareren Klimakrise wird glasklar: Ohne Europäische Union und mit einem Rückfall in die Kleinstaaterei werden wir den Kampf gegen jede dieser Krisen verlieren, und zwar auf rasante Art und Weise.
Österreich ist auf die europäische Solidarität angewiesen und trägt sie deshalb auch uneingeschränkt mit. Das gilt für die Sanktionspolitik gegenüber Russland und für die humanitäre Unterstützung der Ukraine genauso wie für den Wiederaufbau nach der Covid-19-Pandemie durch EU-Anleihen. Das gilt auch für eine gemeinsame Pharmapolitik mit Medikamentenproduktion, Bevorratung und Einkauf, um Preise zu erzielen, die nicht zu einer völligen Überdehnung der Leistungsfähigkeit der Sozialversicherungssysteme aller Mitgliedsstaaten führen.
Wir brauchen die europäische Solidarität beim Umstieg auf erneuerbare Energien, bei der notwendigen „green and just Transition“. Wir brauchen sie bei der Bekämpfung von grenzüberschreitender Kriminalität und von systematischen Angriffen gegen die Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU und bei einer gemeinsamen europäischen – ja, auch militärischen – Verteidigungspolitik.
Wenn wir dieses Mindestmaß an europäischer Solidarität verlieren, verlieren wir alles: Eigenständigkeit, Freizügigkeit, Zukunftsfähigkeit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, und die Fähigkeit, als ernsthafter Partner auf der weltpolitischen Bühne überhaupt wahrgenommen zu werden. Um die Dimension klar zu machen: 1970 stellte Europa 18 % der Weltbevölkerung. 2030 werden es 8,6 % sein.
Um es konkret zu machen: Wir verlieren auch die Möglichkeit auf Erasmus und unkompliziert im Ausland leben und arbeiten zu können, wir verlieren kostenloses Roaming und den Euro als gemeinsame Währung.
Die EU ist sicher nicht das “aggressivste außenpolitische militärische Bündnis, das es je gegeben hat”. Sie ist, ganz im Gegenteil, sogar ziemlich leiwand.
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