„Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“
(Gesundheitsdefinition der WHO)
„Das Virus ist eine demokratische Zumutung.“
(Angela Merkel)
Haben die Expertinnen und Experten recht,[1] bestehen ganz gute Aussichten, dass die Corona-Pandemie demnächst „endemisch“[2] wird und damit ihren Schrecken verliert. Die Impfung hat sehr viel dazu beigetragen, schwere Verläufe mit langen Spitalsaufenthalten oder gar intensivmedizinscher Behandlung drastisch zu reduzieren.
Aber machen wir uns nichts vor: Die Maßnahmen, mit denen wir die Pandemie bekämpft haben, sind eine unvergleichliche Zumutung an unser demokratisches Selbstverständnis: Masken im öffentlichen Raum, Abstandsregeln, Kontakt- und Zutrittsbeschränkungen, mehrere Lockdowns, in denen das soziale und wirtschaftliche Leben des Landes praktisch zum Erliegen kam, und schließlich die Impfpflicht. Diese Eingriffe in unsere Lebensgewohnheiten, in unser Verständnis von Freiheit und Selbstbestimmtheit wären noch vor drei Jahren unvorstellbar gewesen. Angesichts der Bedrohung durch das Virus waren sie bedauerlicherweise notwendig. Zugleich hat die Regierung mit unerhörten budgetären Kraftakten in Höhe von rund 40 Milliarden Euro die direkten Pandemiekosten und die ökonomischen Folgeschäden der Krise abgefedert, so gut es eben ging.
Langzeitfolgen
Doch zwei Jahre der Pandemie haben Spuren hinterlassen. Wir erleben Menschen, die an Long Covid erkrankt sind und sich nur sehr langsam erholen. Wir erleben eine erschreckende Zunahme an psychischen Erkrankungen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Alte und alleinstehende Menschen sind – hoffentlich nur vorübergehend – vereinsamt, Alleinerziehende in einen Zustand struktureller Überforderung geraten, dasselbe gilt beispielsweise für Beschäftigte im Pflege- und Gesundheitswesen. Wir erleben die Verschärfung sozialer Ungleichheiten und eine allgemeine Grundstimmung der Verunsicherung, der Ungeduld, der Ohnmacht, des permanenten Impulses, der Welt ein „Es reicht!“ zuzurufen.
Gerade Kinder und Jugendliche, deren Leben gefühlt schneller verläuft, haben zwei Jahre hinter sich, die sie nicht mehr aufholen können, selbst wenn ab jetzt alles wieder „normal“ würde. Mein dreijähriger Enkel hat zwei Drittel seines bisherigen Lebens unter den Bedingungen der Pandemie verbracht, meine letzten Herbst geborene Enkelin kennt erwachsene Menschen, die nicht dem engsten Familienkreis angehören, nur als Maskenträger:innen.
Nicht erst die letzte Woche im Parlament beschlossene Einführung der Impfpflicht hat zu dramatischen sozialen Verwerfungen geführt. Ich denke, es ist falsch, von einer „Spaltung“ der Gesellschaft zu sprechen, da dieses Bild zwei etwa gleich große Hälften suggeriert, aber es ist nicht zu bestreiten, dass die Corona-Krise Risse verursacht hat. Es gehen Brüche durch Unternehmen, Familien, Beziehungen, Vereine. Freundschaften sind zerbrochen. Die Fronten scheinen verhärtet, unauflöslich, die Standpunkte unversöhnlich. Meinungsverschiedenheiten steigern sich zu erbitterter Gegnerschaft, manchmal zu blankem Hass. Unter solchen Voraussetzungen verschwinden die Bereitschaft und die Möglichkeit, die Welt des jeweils anderen zu verstehen.
Die Immunisierung gegen das Coronavirus schreitet voran, die Immunisierung gegen radikale, staatsfeindliche und offen rechtsradikale Strömungen nimmt ab. Um den Gesundheitszustand unserer Demokratie ist es schlecht bestellt. Die einen unterstellen den anderen, paranoide „Covidioten“ zu sein, die anderen richten den einen aus, sie seien „Faschisten“.
Diese Auseinandersetzungen werden, so viel scheint klar, Langzeitfolgen nach sich ziehen. Die Verletzungen, die wir einander beigebracht haben, werden nicht automatisch verschwinden. Die Zeit wird nicht alle Wunden heilen. Es wird nicht einfach Gras über die traumatischen Erlebnisse der letzten beiden Jahre wachsen.
Wer aber kümmert sich um die Behandlung dieser Traumata, dieser physischen und psychischen Beschädigungen? Wie können Heilung oder wenigstens Versöhnung gelingen? Ich finde, darüber müssen wir reden.
Und auch wenn der großen Mehrheit der Bevölkerung die Sturheit, die Uneinsichtigkeit, die Verbohrtheit, das Misstrauen der kleinen, aber lautstarken Minderheit auf die Nerven gehen: Es ist die Aufgabe der Mehrheit – und damit meine ich zuallererst die Mehrheit im Parlament und die Bundesregierung –, erste Schritte auf die Minderheit zuzugehen, schon allein deswegen, weil sie die Verantwortung für die gesamte Gesellschaft trägt. Doch schließlich kommt es auf uns alle an. Wir müssen neu lernen, aufeinander zuzugehen, zuzuhören, den Disput zu pflegen, Argumente von Emotionen zu unterscheiden.
Und nun?
Wir brauchen dringend ein Ventil, durch das die aufgeheizte Luft aus dem Druckkochtopf, in den die Gesellschaft sich zu verwandeln droht, entweichen kann. Die Einführung der Impfpflicht hat die Temperatur insbesondere auf der Seite der ungeimpften Minderheit aller ideologischen Schattierungen noch einmal bedeutend erhöht.
Nach dem Ende des „Lockdowns für Ungeimpfte“ brauchen wir weitere Ventile, durch die der Druck entweichen kann.[3] Auch wenn die Maßnahme nicht als Strafsanktion konzipiert war (sondern die Überlastung des Gesundheitssystems verhindern sollte), steht er mit der Impfpflicht in einem widersprüchlichen Verhältnis. Es ist unter den aktuellen gesetzlichen und pandemischen Bedingungen nicht länger vertretbar, bestimmte Menschen von weiten Bereichen des öffentlichen Lebens fernzuhalten. Der Besuch von Restaurants und Geschäften jenseits der Apotheken und Supermärkte, das Treffen von Menschen, das Pflegen sozialer Kontakte soll für alle gleichermaßen gegeben sein. Die Frage, ob die Beendigung des „Lockdowns für Ungeimpfte“ auch die Teilnahme an Großveranstaltungen ermöglichen soll, ist heikel; vermutlich wäre eine Maximalgröße zu definieren. Ebenso wenig ist es einfach, den richtigen Zeitpunkt für die Aufhebung dieser Maßnahmen zu finden. Dieser sollte zumindest mit jenen Parlamentsparteien koordiniert werden, die der Einführung der Impfpflicht zugestimmt haben.
Als nächster Schritt sollten die in den diversen Covid-Maßnahmengesetzen verankerten Sonderbestimmungen für Legislative und Exekutive außer Kraft treten. Regierungen und Parlamente (Nationalrat, Landtage, Gemeinderäte) kehren in den verfassungsrechtlichen Normalbetrieb zurück.
Gleichzeitig müssen Verfassungsschutz, Polizei und Justiz kompromisslos gegen jene Gruppen vorgehen, die im Windschatten der Pandemie und im Rahmen von Demonstrationen offen rechtsextreme und staatsfeindliche Aktionen setzen. Die Bedrohung von Ärzt:innen, Pfleger:innen, Lehrer:innen oder Politiker:innen muss mit allen Mitteln des Rechtsstaates bekämpft werden.
Und dann: Aufarbeitung
Es liegt an der Regierung, den institutionellen Rahmen zu schaffen, in dem wir alle die gesellschaftlichen Folgen der Pandemie aufarbeiten können. Symposien, politische Debatten, sozialwissenschaftliche Forschungsprojekte und parlamentarische Gremien sind hierfür nicht genug. Wir müssen uns vor allem Formate überlegen, denen sich auch jene Menschen annähern können, die in den letzten beiden Jahren auf maximale Distanz gegangen sind.
Das wird ein langer und mühsamer Prozess, von dem überhaupt nicht klar ist, ob er zum Erfolg führen wird. Doch beginnen wir ihn nicht, laufen wir Gefahr, einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dauerhaft für alles zu verlieren, was sich mit den Begriffen Demokratie, Teilhabe, Solidarität und Gemeinsinn unscharf umschreiben lässt.
Selten war Politik schwieriger als während – und nach – Corona.
PS: Ich habe zu dem Thema das eine oder andere Interview gegeben, nachzulesen in der Presse, in den Salzburger Nachrichten und im Kurier. [1] Vgl. z. B. https://unchartedterritories.tomaspueyo.com/p/covid-end-game (25.01.2022), https://www.morgenpost.de/vermischtes/article234395811/corona-who-endphase-pandemie-omikron-drosten-impfpflicht.html (25.01.2022), https://de.euronews.com/2022/01/24/who-halt-ende-der-pandemie-in-europa-nach-omikron-welle-fur-plausibel (25.01.2022). [2] „Endemisch“ bedeutet, dass das Virus bei uns – ähnlich wie die Grippe oder FSME – heimisch wird, aber keine großen Schwankungen mehr auslöst. Die Krankheit wird berechenbar.
[3] Wiens Gesundheitsstadtrat Peter Hacker hat völlig recht mit der Einschätzung, dass das eine überaus unglückliche Wortwahl war.
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