Das Ibiza-Video, hinlänglich bekannt, hat 2019 in Österreich ein politisches Erdbeben ausgelöst und die türkis-blaue Regierung gesprengt. Der damalige Vizekanzler Heinz-Christian Strache wurde untragbar, Sebastian Kurz höchstpersönlich zog die Reißleine.
Johannes Huber hat auf seinem blog https://diesubstanz.at/regierung/text-sebastian-kurz/ dankenswerterweise herausgearbeitet, was Kurz damals gesagt hat:
Im Sinne der Sacharbeit habe ich nicht bei der ersten Verfehlung die Zusammenarbeit beendet. Aber nach dem gestrigen (… Ereignis) muss ich sagen: Genug ist genug. Auch wenn die Methoden, die an Silberstein erinnern, verachtenswert sind: Der Inhalt ist, wie er ist. (…) Wirklich schwerwiegend sind die Ideen des Machtmissbrauchs und der Umgang mit dem Steuergeld und der Umgang mit der Presse.
Die FPÖ schadet mit ihrem Verhalten unseren Weg der Veränderung. Es ist ein Schaden für das Ansehen unseres Landes und es entspricht auch nicht meinem politischen Zugang, der Republik und den Menschen unseres Landes zu dienen. Vor allem aber habe ich in den Gesprächen mit der FPÖ heute nicht das Gefühl gehabt, dass (…) es eine wirkliche Bereitschaft gibt für eine tiefgreifende Veränderung auf allen Ebenen der Partei.
Jetzt ist Sebastian Kurz selbst mit Vorwürfen konfrontiert, die weit schwerer wiegen als alles, was Strache zur Last gelegt wurde. Kurz selber und die gesamte ÖVP versuchen jedoch, die Ermittlungen der WKSta als „konstruiert“, haltlos und falsch darzustellen. Kein Vergleich mit Ibiza, sozusagen. Und strafrechtlich sei sowieso nichts dran.
Strache hat mit den Äußerungen im Ibiza-Video kein strafrechtlich relevantes Faktum geschaffen. Trotzdem musste er gehen. Zu Recht. Weil es auch eine politische Verantwortung gibt, weil ein Vizekanzler der Republik Österreich mit der Last dieses Videos nicht mehr akzeptabel und nicht mehr handlungsfähig ist. Diesen Maßstab haben Sebastian Kurz und die ÖVP damals angelegt. Kurz selbst monierte insbesondere den „Umgang mit dem Steuergeld und den Umgang mit der Presse“.
Und nun soll dieser Maßstab nicht mehr gelten? Nun gilt für den Kanzler nicht, was für den Vizekanzler noch galt? Etwa weil es um die eigenen Taten geht? Bei einem durch unzählige Chatverläufe dokumentierten und von der Staatsanwaltschaft aufbereiteten Sachverhalt? Woher die Doppelzüngigkeit? Das Verhalten des Kanzlers und der ÖVP ist ethisch haltlos, faktisch absurd und politisch frivol. Man fühlt sich an die Dreistigkeiten des früheren israelischen Premiers Benjamin Netanjahu erinnert, der Korruptionsskandale am laufenden Band produzierte und schließlich von einer Regierungskoalition aus dem Amt gejagt wurde, deren einziger gemeinsamer Nenner die Ablehnung des Systems Netanjahu ist.
Nun, wir Grünen wollen die Maßstäbe, die Kurz bei Strache anlegte, auch beim Bundeskanzler angelegt wissen.
Strache hat im Ibiza-Video darüber schwadroniert, was er alles tun werde, wenn er erst an der Macht ist. Sebastian Kurz und sein engstes Umfeld gingen offenbar wesentlich weiter.
Es mögen sich bitte alle selber ein Bild machen, und das Dokument in seinen wesentlichen Teilen lesen. Sie finden es hier:
https://drive.google.com/file/d/1wKpAPo-L4nrVQ3piZKDZjZGbF9IRQ2X9/view.
Die Staatsanwaltschaft wirft Sebastian Kurz vor, er habe „das Verbrechen der Untreue nach § 153 Abs. 1 und 3 zweiter Fall StGB als Beteiligter nach § 12 zweiter Fall StGB und […] das Verbrechen der Bestechlichkeit nach § 304 Abs. 1 und 2 zweiter Fall als Beteiligter nach § 12 zweiter Fall StGB“ begangen.[1]Sie sieht Kurz als den Auftraggeber der korrupten Praktiken.[2]
„Sebastian KURZ ist die zentrale Person“, schreibt die WKSTA. Es „ist ersichtlich, dass er in allen wichtigen Belangen die Grundsatzentscheidungen trifft“. Wenn dann einmal „ein Problem dringend gelöst werden muss, bringt er sich unmittelbar […] selbst ein“ – etwa im März 2016, als es darum ging, der zögernden Sophie Karmasin das Projekt schmackhaft zu machen. Die „zentrale Rolle von Sebastian Kurz an den Tathandlungen“ ist für die Staatsanwaltschaft „deutlich ersichtlich“. „Dass bei der deutlich ersichtlichen streng hierarchischen Struktur der Gruppe ein derart komplexer Tatplan von den Mitbeschuldigten ohne Wissen und Wollen des Begünstigten KURZ ausgearbeitet und umgesetzt wurde, kann hingegen ausgeschlossen werden.“[3]
Die Justiz – also zumindest die WKSTA und der Richter, der die Hausdurchsuchung genehmigte – hat also hinreichenden Verdacht anzunehmen, dass Sebastian Kurz und ein Netzwerk aus engen Vertrauten „Inserate- und Medienkooperationsvereinbarungen aus sachfremden und nicht im Interesse des BMF [Finanzministeriums, Anm.] gelegenen Gründen“ mit der Zeitung Österreich abschloss. Im Gegenzug veröffentlichte Österreich zwischen 2016 und 2018 mutmaßlich nicht nur die frisierten Umfragen, sondern auch Artikel und Kommentare, die nicht als Werbeeinschaltungen, sondern als redaktionelle Beiträge gekennzeichnet waren. Eine Gruppe um Sebastian Kurz kaufte bei Österreich Inserate und erhielt dafür nicht nur den Abdruck der Inserate, sondern auch „relevante Berichte, die zu vorgegebenen Zeitpunkten […] in Medien der Fellner-Gruppe“ erschienen.[4] Die inhaltlichen Vorgaben stammten laut WKSTA von Sebastian Kurz und seinen engsten Beratern Gerald Fleischmann, Johannes Frischmann und Stefan Steiner.
Im September 2016 setzte der mittlerweile als Chef der ÖBAG abgesetzte Thomas Schmid, damals Kabinettchef im Finanzministerium, Sebastian Kurz per SMS darüber in Kenntnis, dass „die gesamte Politikforschung im Österreich [gemeint ist die Zeitung, Anm.] nun zur [im Akt unkenntlich gemachten Agentur, die die frisierten Umfragen im Auftrag der Gruppe um Kurz produzierte, Anm.] wandern“ werde. „Damit haben wir Umfragen und Co im besprochenen Sinne :-))“ Sebastian Kurz war über diese Medienmanipulationen also informiert, schließt die Staatsanwaltschaft daraus.
Sebastian Kurz war mit der bestellten Berichterstattung offenbar zufrieden. „Danke für Österreich heute“, schrieb er am 08.01.2017 an Schmid, der antwortete: „Immer zu Deinen Diensten :-))“ In Österreich stand an diesem Tag zu lesen: „ÖVP im Umfrage-Keller“, und die vermeintlich unabhängige, tatsächlich jedoch in den Diensten der Gruppe um Kurz stehende Meinungsforscherin gab in einem Interview zu Protokoll: „VP würde von Kurz-Wechsel profitieren“.
So weit, so unappetitlich.
Doch die Staatsanwaltschaft geht weiters davon aus, dass die Abrechnung der im Auftrag der ÖVP erstellten Umfragen auf verdeckte Weise über das Finanzministerium erfolgte, wodurch der Republik ein beträchtlicher finanzieller Schaden entstanden sei, der sich noch gar nicht genau beziffern lässt, jedoch in Millionenhöhe angesiedelt sein dürfte.
Fazit
So wie Straches Ibiza-Video liefern die SMS-Chats aus Kurz’ engstem Beraterkreis ein verstörendes Sittenbild. Anders als Strache im Ibiza-Video steht Kurz unter Verdacht, an Verbrechen beteiligt gewesen zu sein. Das ist eine völlig andere Dimension als die Ermittlungen wegen des Vergehens der Falschaussage im U-Ausschuss, hinsichtlich deren ich Kurz vor einigen Monaten noch verteidigt habe. So wie Strache nach dem Ibiza-Video ist Kurz – trotz der Unschuldsvermutung gegen seine Person – nach der Hausdurchsuchung im Bundeskanzleramt eine politische Zumutung. So wie Strache nach dem Ibiza-Video sollte nun auch Kurz politisches Verantwortungsbewusstsein zeigen und die Konsequenzen ziehen.
[1] https://drive.google.com/file/d/1wKpAPo-L4nrVQ3piZKDZjZGbF9IRQ2X9/view, S. 8 f. [2] https://www.derstandard.at/story/2000130217983/vorwuerfe-gegen-kurz-und-sein-umfeld-gegen-wen-ermittelt-wird (08.10.2021). [3] https://drive.google.com/file/d/1wKpAPo-L4nrVQ3piZKDZjZGbF9IRQ2X9/view, S. 66 f. [4] https://drive.google.com/file/d/1wKpAPo-L4nrVQ3piZKDZjZGbF9IRQ2X9/view, S. 22.
"... Jetzt ist Sebastian Kurz selbst mit Vorwürfen konfrontiert, die weit schwerer wiegen als alles, was Strache zur Last gelegt wurde. ...": das ist falsch.