- johannesrauch8
- 28. Apr.
„Soziale Arbeit muss immer politisch,
politische Arbeit immer sozial sein!“ –
Aber was heißt das in Zeiten wie diesen?
Lassen Sie mich beginnen mit zwei konkreten Begegnungen, die ich in den letzten Monaten hatte:
Beim Einkaufen in Vorarlberg kommt im Baumarkt ein Mann auf mich zugestürmt, begrüßt mich überschwänglich mit den Worten „kennscht mi numma?“ – meine Antwort war: „na“
Er weiter: „Ich war bei dir im Arbeitsprojekt für Langzeitarbeitslose. Du hast mich damals mehr oder weniger dazu gezwungen, hast mich in der ersten Woche jeden Tag um 6 in der Früh von zuhause abgeholt, damit ich aufstehe und zur Arbeit gehe. Ich habe es gehasst und dich auch. Irgendwie habe ich es dann durchgezogen und nach 8 Monaten einen Job in einer Firma gefunden, den ihr mir vermittelt habt. Ich kann dir sagen: Ich arbeite noch heute dort und bin dir so unendlich dankbar, das war meine Rückkehr ins Leben nach 3 Jahren Arbeitslosigkeit, Krankheit und Schulden!“
Soziale Arbeit, die wirkt.
Zweites Beispiel:
Im vergangenen Herbst traf ich – damals noch als Sozialminister - in Graz Frau K., die im Rahmen des Projektes housing first österreich zu einer Wohnung gekommen ist. Sie hat mir geschildert, wie ihr Leben in einer Gewaltbeziehung davor ausgeschaut hat und wie froh sie ist, nun eine fixe Bleibe für sich und Ihre Kinder zu haben. Hier kann sie ihr Leben neu ordnen, begleitet und unterstützt von einem Projekt, das vom Sozialministerium finanziert wird. Wohnen ist Beheimatung. Das ist das Wichtigste, weil – in diesem Sinne – seiner Heimat beraubt zu werden, das Schlimmste ist, das einem passieren kann.
Politische Arbeit, die wirkt.
Die schwierigste Aufgabe heute für mich, das ist mir erst bei der Vorbereitung gedämmert, besteht allerdings darin, die Frage, die im Titel der Veranstaltung hintangestellt ist zu beantworten: Was heißt das in Zeiten wie diesen?
Das erfordert nämlich zuallererst einen Blick darauf, was es denn für Zeiten sind, in denen wir gerade Leben. Schwierig!
Wie eine Welt beschreiben, deren Wahrnehmung mehr denn je davon bestimmt ist, welche Algorithmen uns im Minutentakt den vermeintlich letzten heißen Scheiß in unsere timelines spülen? Wie eine Welt beschreiben, die zeitgleich von zunehmender Komplexität und als hilflose Antwort darauf von immer brachialer werdender Vereinfachung und Trivialisierung geprägt ist?
Ein paar Schlaglichter mögen genügen:
- Im Windschatten des Ukraine-Krieges will die EU die eigene Aufrüstung um 800 Mrd erhöhen, seit den frühen 1990er Jahren haben sich die weltweiten Rüstungsausgaben nahezu verdoppelt auf 2.500 Milliarden USD
- Donald Trump und seine willfährigen Helfer sind gerade dabei, die demokratischen Vereinigten Staaten von Amerika in eine Autokratie umzubauen und die Weltwirtschaft nachhaltig zu schädigen oder anders gesagt: vom Primat der Politik zum Primat des Turbokapitalismus zum Primat des Aberwitzes.
- Parlamentarische Demokratien, gebaut auf den Werten der Aufklärung, dem Prinzip der Gewaltenteilung und freier und geheimer Wahlen werden zunehmend ausgehöhlt
- Wissenschaftsfeindlichkeit und Verschwörungstheorien feiern fröhliche Urständ
- Das Aufstiegsversprechen, welches das Nachkriegseuropa geprägt hat ist von einer kollektiven Abstiegsangst abgelöst worden
- Laut der Oxfam-Studie "Takers not Makers" gibt es weltweit derzeit 2.769 Milliardärinnen und Milliardäre. Ihr Gesamtvermögen sei 2024 dreimal schneller gewachsen als im Jahr zuvor. Bei den reichsten zehn Milliardären sei das Vermögen im Durchschnitt um 100 Millionen US-Dollar pro Tag gewachsen. Die Zahl der Menschen, die unter der erweiterten Armutsgrenze der Weltbank von 6,85 US-Dollar pro Tag leben, stagniert dagegen seit 1990 und beträgt laut Oxfam fast 3,6 Milliarden.
- Mentale Gesundheit verschlechtert sich, insbesondere bei jungen Menschen
- Und letzter Punkt, Demografie: In Europa werden demnächst 30% der Bevölkerung 65 Jahre und älter sein, in Afrika sind fast zwei Drittel der Bevölkerung jünger als 25 Jahre.
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„Die Politik“ – die es genauswenig gibt wie „die Wirtschaft“ – hechelt dem allem hinterher und dann komme ich und sage: soziale Arbeit muss poltisch sein. Warum?
Warum muss soziale Arbeit politisch sein?
Ich versuche das zunächst einmal herzuleiten entlang der gerade sehr aktuellen Frage gekürzter Budgets. Die Kürzung von Budgets beispielsweise im Gesundheits- und Sozialbereich ist immer ein politischer Akt, der von Mehrheiten in Parlamenten beschlossen werden muss oder, in weniger demokratischen Systemen, per Dekret verordnet wird. Es ist kein Zufall, dass in Österreich in den Bundesländern Niederösterreich und Oberösterreich, also genau dort, wo die FPÖ seit längerem mitregiert, der Vollzug der Sozialhilfe und die Vergabe von Wohnungen am rigidesten gehandhabt wird.
Beispiel 1:
Die Bundesländer haben Spielraum bei der Anrechnung von Wohnkosten bei der Sozialhilfe.
So erhält ein Paar in Niederösterreich (Einkommen 500 Euro, Mietkosten 980 Euro) um über 300 Euro pro Monat weniger Sozialhilfe als ein Paar in der Steiermark mit gleich hohen Mietkosten.
Beispiel 2:
Eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern (3 und 19 Jahre) erhält in Wien, Vorarlberg oder Salzburg [1] einen Zuschlag von rund 140 Euro pro Monat für ihr minderjähriges Kind. Oberösterreich und Niederösterreich streichen ihr diesen Kinderzuschlag, weil ein volljähriges Kind im Haushalt lebt. Ihr entgehen daher 140 Euro im Monat bzw. 1.680 Euro pro Jahr!
Die Aufkündigung der 15a-Vereinbarung und damit eines österreichweit einheitlichen Vollzugs der Mindestsicherung und die Rückkehr zum Fleckerlteppich der Sozialhilfe war ein bewusster politscher Akt der damaligen schwarz-blauen Regierung.
Wenig überraschend bin ich der Überzeugung, das in nahezu allen Feldern der sozialen Arbeit nicht nur das Individuum und seine Bedürftigkeit im Fokus stehen müssen, sondern immer auch den strukturellen Ursachen dafür auf den Grund zu gehen ist. Ein erster Grund, warum soziale Arbeit immer auch politisch ist und sein muss.
Warum muss politische Arbeit sozial sein?
Die politische Debatte in Europa dreht sich aktuell um die Bewältigung von Rezession, Inflation, mehr Rüstungsausgaben und damit wesentlich ums Geld. In aller Verkürzung ein paar Aspekte:
1. Der Druck auf die Haushalte, also die Budgets – europäisch, national wie regional – wird zunehmen. Die Kosten der Bewältigung von COVID, der Energiekrise, die Bekämpfung der Inflation und höhere Zinsen für Schuldendienste und Kapitalbeschaffung sind einige Gründe dafür.
2. Daher werden die so genannten Fiskalregeln zum „battleground“ für alle Mitgliedsstaaten, entlang der Frage „sparen oder investieren“; wobei „sparen“ fast immer gleichbedeutend ist mit „kürzen“ – und hier fast immer in den Bereichen Soziales und Gesundheit.
3. Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsausgaben sind Investitionen. Immer, wenn Straßen, Brücken, Häuser, Kraftwerke gebaut werden, wird von „Investitionen“ gesprochen, geht es um Bildung, Gesundheit, Soziales oder Pflege immer nur von „Kosten“. Das ist falsch, dieses Mindset muss verändert werden!
4. Wer keine oder weniger Investitionen in Bildung, Soziales, Gesundheit, Pflege tätigt, spart sich kurzfristig Geld, generiert aber in wenigen Jahren dramatische Mehrausgaben durch Qualitätsmängel und Unterversorgung, Armut. Das ist sowohl ökonomisch wie volkswirtschaftlich belegbar.
5. Finden diese Investitionen nicht statt, kommen nicht nur Budgets unter Druck, sondern Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, weil sich der Zorn der Zurückgelassenen entladen wird, auch auf der Straße.
6. Investitionen in Soziales, Gesundheit oder Pflege gefährden deshalb nicht die Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsstaaten oder der Europäischen Union, sie sind ein Garant für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit!
7. Alle kennen die Aussage: „It’s the economy, stupid“. In Zukunft werden wir sagen: „It’s social protection, stupid!“
Wenn wir über Sozialpolitik reden, über das soziale Netz, dann geht es in erster Linie um Menschen. Um Schicksale. Um den Wunsch jeder einzelnen Person, teilhaben zu können am Leben, an dem, was wir Gesellschaft nennen. Um die Chance auf Aufstieg durch Bildung. Um den Wunsch aller Eltern, dass die Kinder es mindestens gleich gut haben sollen in ihrem Leben wie sie selbst - oder eben besser!
Es ist dieses europäische Modell des Sozialstaats, das unsere Gesellschaft prägt, das sozialen Frieden bringt und auf dem auch unser Wohlstand basiert. Es ist das Gegenmodell zum neoliberalen „Hilf-dir-Selbst-Darwinismus“.
Unser Sozialstaat gibt den Menschen Sicherheit und Hoffnung auf Aufstieg, auf eine bessere Zukunft. In der Krise - den Krisen - haben wir gesehen: Der Sozialstaat trägt!
Eine Alleinerzieherin mit zwei Kindern, die 1000 Euro brutto verdient, hat seit Beginn der Krise mindestens 5000 Euro zusätzlich erhalten. Für diese Familie ist das enorm viel Geld. Geld, das auch angekommen ist.
Diese Alleinerzieherin hat profitiert
- von den Direktzahlungen, die an Empfänger:innen von Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, Notstandshilfe und Mindestpensionist:innen gingen
- Aus dem Paket gegen Kinderarmut erhält sie 60 Euro pro Kind und Monat.
- Sie hat von Stromkostenbremse, Energiekostenausgleich, der Senkung von Elektrizitäts- und Erdgasabgaben profitiert, mit denen wir die Energiekosten gesenkt haben.
- Wohnbeihilfe und Heizkostenzuschuss haben sich erhöht, weil wir den Ländern 700 Millionen Euro zur Verfügung gestellt haben.
- Der Wohnschirm hat ihr geholfen, wenn dennoch Rückstände bei Mieten oder Energiekosten entstanden sind.
- Die Valorisierung aller Familien- und Sozialleistungen ist natürlich auch dieser Alleinerzieherin zugute gekommen - eine Maßnahme, für die Sozialminister vor mir über Jahrzehnte gekämpft haben. Nur deshalb ist jede einzelne Sozialleistung in den letzten zwei Jahren um 20 Prozent erhöht worden.
Alles das waren politische Kraftakte, wie Sie sich unschwer vorstellen können, die dem Koalitionspartner mühsam abgerungen werden mussten.
[Soziale Investitionen]
In einer Krise geht es darum, rasch zu helfen. Genau das haben wir getan. Mit unseren Maßnahmen konnten wir die hohe Inflation für das untere Einkommensdrittel zumindest kompensieren. Die Zahl armutsgefährdeter Menschen ist weitgehend stabil geblieben.
Nun müssen wir den nächsten Schritt machen: strukturelle Maßnahmen, die Armut beseitigen, Menschen fördern, der Wirtschaft dringend benötigte Fachkräfte bringen.
Wir dürfen uns dabei keine Illusionen machen: In den kommenden Jahren werden die Budgetmittel deutlich knapper werden. Wir werden auch eine gesellschaftliche Debatte darüber zu führen haben, wofür wir das vorhandene Geld investieren.
An dieser Stelle treffen sich meine drei beruflichen Ich’s: Banker, Sozialarbeiter und Sozialminister. Denn Investitionen in Soziales, Gesundheit und Pflege rechnen sich. Sie bringen einen „Return on Investment.“
- Jemanden vor der Delogierung zu bewahren, ist viel günstiger, als ihn in einer Obdachloseneinrichtung oder einer Notwohnung zu betreuen.
- Jemanden im Alter möglichst lange selbstständig zu erhalten, ist viel günstiger, als ihn in einem Pflegeheim zu pflegen.
- Menschen mit Behinderungen zu einem selbstbestimmten Leben zu verhelfen, ist viel günstiger, als institutionalisierte Betreuungseinrichtungen zu bezahlen
Kinder vor Armut zu bewahren, ist viel günstiger, als die Folgekosten aufgrund schlechter Bildung und schlechterer Gesundheit im weiteren Leben zu bezahlen. Das hat uns die OECD im vergangenen Herbst in einer Studie vorgerechnet: Die Folgen von Kinderarmut kosten uns jährlich (!) 17,2 Milliarden Euro – in Österreich! Jährlich! Die Investitionen, um Kinderarmut zu verhindern, kosten lediglich einen Bruchteil davon.
Wir sehen also: Soziale Investitionen sind Investitionen in die Zukunft von Menschen. Sie sind aber auch Investitionen in den sozialen Frieden, in den Zusammenhalt unserer Gesellschaft und in die Demokratie. Sie sind die Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg und Wettbewerbsfähigkeit in der Zukunft. Das gilt für Österreich, das gilt für Europa, das gilt global.
Was brauchen wir?
1. Kindergrundsicherung
Familienbeihilfe, Familienbonus Plus, Alleinerzieherabsetzbetrag, Kinderabsetzbetrag, … die Leistungen für Kinder sind fast unüberschaubar. Trotzdem sind Alleinerzieherinnen und Familien mit Kindern weiterhin besonders von Armut betroffen.
Wir brauchen: eine Grundsicherung für Kinder, die sicherstellt, dass alle Kinder in Österreich die gleichen Chancen haben, unabhängig von ihrer Herkunft oder der finanziellen Situation der Eltern. Dafür gibt es bereits mehrere Modelle: Volkshilfe, Arbeiterkammer, und andere haben hier wertvolle Vorarbeit geleistet. Die einen setzen mehr auf Geldleistungen, die anderen auf Sachleistungen. Ein kluges Modell muss beides vereinen.
- Es muss die vorhandenen, komplizierten und oft schwer zugänglichen Zahlungen und Leistungen zusammenfassen. Die Auszahlung erfolgt automatisch und jeden Monat an die Eltern.
- Es muss die finanzielle Grundsicherung für Kinder raus aus der Sozialhilfe-Ecke! – Widerliche „Hängematten“- und Sozialneiddebatten dürfen nicht länger auf dem Rücken von Kindern ausgetragen werden
- Es muss aber auch Sachleistungen sicherstellen: eine warme Mahlzeit pro Tag für jedes Kind, leistbare Kinderbetreuung, kostenloser Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung und vieles mehr.
2. Mindestsicherung neu
Die Abschaffung der Mindestsicherung war der sozialpolitische Sündenfall der türkis-blauen Vorgängerregierung. Statt Mindestleistungen wurden Höchstgrenzen vorgeschrieben. Die Spielräume für die Länder wurden massiv eingeengt. Und man muss sagen: Vor allem die schwarz-blau regierten Länder nützen nicht einmal diese Spielräume.
Das hat Folgen: 250.000 Menschen in Österreich hatten in den letzten 3 Monaten manchmal Hunger. 500.000 Menschen geben an, dass sie ihre Wohnung nicht angemessen warmhalten können. Türkis-blau haben dieses Auffangnetz demoliert und sind dafür verantwortlich.
Nun müssen wir zurück zu einer Mindestsicherung, die ihren Namen verdient, und zu einer 15a-Vereinbarung mit den Ländern mit stärkerer Integration ins AMS und seine Leistungen bei gleichzeitigem Ausbau der Beratungs-, Betreuungs- und Bildungsangebots. Es kann und darf nicht sein, dass es davon abhängt, in welchem Bundesland man lebt, wieviel man zum Überleben bekommt. Wir müssen alle Menschen absichern, die es brauchen. Das bedeutet: Auch Vertriebene aus der Ukraine und subsidiär Schutzberechtigte müssen Anspruch auf diese “Mindestsicherung neu” haben.
3. Leistbares Wohnen
Wohnen ist ein Grundrecht, Spekulation nicht! Deshalb dürfen Mieten und Betriebskosten nicht die Hälfte und mehr des Einkommens auffressen. Wir benötigen ein dauerhaftes öffentliches Wohnprogramm:
- 30.000 gemeinnützige Wohnungen mit garantierter Mietobergrenze in den nächsten fünf Jahren
- 20.000 Sanierungen von gemeinnützigen Wohnungen, damit Heizen nicht zur Kostenfalle wird
- Umsetzung der Leerstandsabgabe in den Bundesländern, damit leerstehende Wohnungen verfügbar werden
- ein Mietpreisdeckel für alle Mieten, der davor schützt, in Not zu geraten.
Wer bei Mieten oder Strom-/Heizkosten in Rückstand gerät, dem wird mit dem Wohnschirm geholfen. Wir haben damit schon über 80.000 Menschen in Österreich geholfen! Eine große Mehrheit davon betrifft Haushalte, in denen minderjährige Kinder leben.
Den Wohnschirm müssen wir dauerhaft aufspannen, housing first dauerhaft absichern. Das müssen wir mit 100 Millionen Euro pro Jahr ausreichend finanzieren. Weil es billiger ist, Wohnungsverlust zu vermeiden, als die Folgekosten zu finanzieren!
Wie bekommen wir all das?
Allianzen bilden!
Fast am Ende angekommen, möchte ich eine Lanze brechen für die Bildung von Allianzen. Sozialarbeiter:innen müssen sich für den Berufsstand engagieren, um den Berufsstand stärker zu machen. Sozialarbeit muss sich zusammentun mit anderen Sozial- und Gesundheitsberufen. Projekte, Institutionen, Träger müssen mit anderen kooperieren und lobbyieren – gemeinsam, mit Wucht, mit Energie. Das gesamte Feld der sozialen Arbeit, der Gesundheit, der Pflege und Betreuung, die Gesundheits- und Sozialwirtschaft im besten Sinn des Wortes muss klar machen: it’s social protection, stupid! Ohne uns geht es nicht und wenn ihr uns kaputtspart, gehen Gesellschaft und Gemeinsinn kaputt und dann die Wirtschaft und dann die Demokratie – und das ist keine leere Drohung, sondern kann an vielen Orten der Welt bereits beobachtet werden!
Das klarzumachen, dafür zu streiten, dafür braucht es mehr Kooperation, mehr Engagement und, ja, die Bereitschaft zu kämpfen!
Last not least: Europa
Ich hatte das Privileg, in den letzten drei Jahren, bei den Räten der europäischen Sozial- und Gesundheitsminister:innen dabei sein zu dürfen. Dort spürt man mehr als deutlich, was „Rechtsruck“ und extreme Rechte in Regierungen bedeutet: Schweden und Finnland, auch Italien, waren immer mit dabei, wenn es darum ging, für Soziales, Gesundheit und Pflege eine Lanze zu brechen. Das ist vorbei. Und das wird in den Wortmeldungen auch deutlich so vorgetragen!
Ich halte es allerdings für fatal, und damit möchte ich schließen, in Resignation, Fatalismus oder Zynismus zu verfallen, ganz nach dem Motto: kann man nix machen, sollen sie halt regieren, die Leute werden dann schon sehen.
Nein, sollen sie nicht! Ich habe mein gesamtes berufliches und politisches Leben lang für jene gekämpft, die an den Rand gedrängt wurden, abgehängt, vergessen, marginalisiert.
Ich bin überzeugt davon, dass bei allen Mängeln, die sie hat, die Europäische Union die einzig tragfähige Plattform ist, auf der wir die Zukunft aufbauen können. Eine Festung Österreich und ein Rückfall in die Kleinstaaterei ist es nicht. Auch nicht das bizarre provinzielle Gehabe mancher Landeshauptleute, die alles Böse in Wien oder Brüssel verorten und den Leuten vorgaukeln, das heimatliche Biedermeier reiche aus, um in Zukunft bestehen zu können.
Ich bin überzeugt davon, dass es unsere verdammte Aufgabe ist, uns um jene zu kümmern, die mehr aus Verzweiflung, denn aus Überzeugung antidemokratische, autoritäre und antieuropäische Parteien wählen.
Ich bin überzeugt davon, dass das immer groteskere und obszönere Ungleichgewicht zwischen Einkommen, die stagnieren, und Vermögen, die ins Unendliche wachsen, in eine angemessene Balance gebracht werden muss.
Sich um die Nöte der Menschen zu kümmern, heißt auch: den Sozialstaat stärken. Hilfe für alle, die sie wirklich brauchen! Ein soziales Netz für die Menschen, denen es nicht gut geht.
Weil über allem steht:
Nur ein sozialer Staat bleibt demokratisch!
Verwendete Quellen, Literatur:
Ivan Krastev / Europadämmerung – Ein Essay
Edition Suhrkamp
Eva Illouz / Explosive Moderne
Suhrkamp
Georg Diez /Kipp-Punkte
Von den Versprechen der Neunziger zu den Krisen der Gegenwart / Aufbau-Verlag
Byun Chul Han / Infokratie, Digitalisierung und die Krise der Demokratie
Matthes & Seitz
Ivan Krastev / Stephen Holmes / Das Licht, das erlosch
Ullstein
- Johannes Rauch
- 2. Jan. 2024
Zur Lage in Europa ein halbes Jahr vor den Wahlen zum Europäischen Parlament
Klimakrise, Pandemie, Kriege in der Ukraine und Palästina, dramatisch gestiegene Preise für Energie, Lebensmittel und Wohnen: Nach und mitten in multiplen Krisen fühlen sich viele Menschen abgehängt, von der Politik nicht vertreten. Unser Modell eines Sozialstaats gibt den Menschen Sicherheit und Hoffnung auf Aufstieg. Soziale Investitionen sind deshalb Investitionen in Demokratie und Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Die Europawahl wird entscheiden, ob Rechte und Rechtsextreme mit ihrem Angriff auf Demokratie und Rechtsstaat erfolgreich sind.
Wie schon nach der Bankenkrise 2008 geht es auch jetzt, nach und mitten in multiplen Krisen vor allem um eines: Geld. Vorrangig um Geld des Staates zur Bekämpfung und Eindämmung der negativen Auswirkungen dieser sich gegenseitig verschärfenden Krisen.
Als Sozialminister habe ich dazu eine klare Haltung: Sozial- und Gesundheitsausgaben sind Investitionen. Investitionen in Menschen, in Zusammenhalt und Zukunft unserer Gesellschaft. Wer keine Investitionen in Soziales, Gesundheit, Pflege tätigt, spart sich kurzfristig Geld, generiert aber in wenigen Jahren dramatische Mehrausgaben durch Qualitätsmängel und Unterversorgung, Armut.
Das europäische Sozialstaatsmodell hat sich in Abgrenzung zum neoliberalen „Hilf-dir-Selbst-Darwinismus“ gerade während der Pandemie als tragfähig erwiesen. In Österreich wurde es über Jahrzehnte errungen, aufgebaut und verteidigt – ein Auffangnetz, das Sicherheit bei Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Arbeitsunfähigkeit, Behinderung und persönlichen Notlagen bietet.
Finden nötige Investitionen in Soziales, Gesundheit und Pflege nicht statt, kommen nicht nur Budgets unter Druck, sondern Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, weil sich der Zorn der Zurückgelassenen entladen wird, auch auf der Straße. Soziale Absicherung ist die Voraussetzung für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und der wiederum ist die Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg.
Frei nach Bill Clinton: It’s social protection, stupid!
In Österreich habe ich mich deshalb mit dem Finanzminister darauf verständigt, dass mehr investiert wird in Gesundheit, Soziales und Pflege, aber nur dann, wenn damit Reformen verbunden sind.
Je größer die Krisen, desto erfolgreicher sind die rechten und rechtsextremen Parteien
Wahlergebnisse und Umfragen zeigen, dass nahezu überall in Europa rechte, rechtsnationale und rechtsextreme Parteien auf dem Vormarsch sind. Deren Programmatik ist so simpel wie klar: Populistische Parolen, vermeintlich einfache Lösungen für komplexe Probleme, Schuldzuweisungen an „die Ausländer“, „die Systemparteien“, „die Lügenpresse“.
Die Kommunikation ist grenzüberschreitend eng abgestimmt und kommt in gleichlautender Aggressivität und Tonalität daher. Mutmaßlich (es gilt, bedingt, die Unschuldsvermutung) werden viele dieser Parteien aktiv von Russland unterstützt.
Das Ziel ist die Schwächung der Europäischen Union sowie der demokratischen, rechtsstaatlichen Verfasstheit unserer Demokratien. Die parlamentarische Demokratie und deren Institutionen sind diesen Parteien verhasst, sie begegnen ihnen durchwegs mit Verachtung.
In der polit-medialen Landschaft wird diesem Phänomen entweder mit einer seltsamen Art von „Angstlust“ oder Resignation und Fatalismus begegnet. Man scheint nicht zu begreifen, was auf dem Spiel steht.
Mein leidenschaftlicher Appell dazu
Die Wahlen zum europäischen Parlament im nächsten Jahr werden die wichtigsten Wahlen meines gesamten politischen Lebens. Ich bin nicht bereit, den Niedergang, die Zerstörung der europäischen Union, wie wir sie kennen – mit allen ihren Fehlern und Mängeln, ja, aber eben auch ihren einzigartigen Vorzügen – kampflos den Rechten zu überlassen!
Es kann und darf nicht achselzuckend hingenommen werden, dass in Europa viele Orbans das Zepter in die Hand bekommen. Wer sich ein Bild machen möchte, wie die Verwüstung der unabhängigen Medienlandschaft, die Zersetzung und Zerstörung der unabhängigen Justiz, die schleichende Entmachtung der Parlamente, das willkürliche Umbiegen von Verfassungen, die systematische Missachtung von Menschenrechten aussieht, kann sich bereits jetzt in Ungarn ein Bild machen. (In Polen besteht immerhin Aussicht auf Korrektur unter der neuen Regierung von Donald Tusk.)
Wer denkt, dass es uns ohne EU besser geht, sollte den Blick nach Großbritannien richten, wo sich der Brexit als historischer Fehler erwiesen hat. Er hat das Land sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftspolitisch in eine tiefe Krise gestürzt.
Wird Europa von den Rechtsextremen übernommen, fallen wir zurück in Kleinstaaterei, die Errichtung von staatlichen „Festungen“ und eine gesellschaftspolitische Enge, die wir längst überwunden geglaubt hatten. Welch ein Irrtum!
Was wir für unverrückbar und auf Dauer errungen geglaubt haben – Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Freizügigkeit der Waren- und des Personenverkehrs, ein intaktes und tragfähiges Sozial- und Gesundheitssystem – steht plötzlich zur Disposition.
Deshalb gilt: Wenn die Politik nicht in der Lage ist, jene rund 30 Prozent der Wähler:innen wieder anzusprechen, die die Hoffnung verloren haben, dass sich ihre Lebenssituation oder die Zukunftsperspektiven ihrer Kinder mit ihrem bisherigen Wahlverhalten verbessern lassen, werden wir scheitern.
Das steht und fällt in meinen Augen mit einer angemessenen Sozialpolitik, die in mehr als unsicheren Zeiten Absicherung bietet; das steht und fällt mit einer inklusiven Bildungspolitik, die Schluss macht mit der endlosen Vererbung von Bildungs- und Karrierelaufbahnen entlang der sozialen und ökonomischen Verhältnisse der Eltern; das steht und fällt allerdings auch mit der Fähigkeit, die „grüne Transformation“ klar und verständlich zu machen. Hier gilt für „Nicht-Handeln“ oder „Nicht-Investieren“ dasselbe wie für die sozialen Investitionen. Es nicht zu tun, kommt uns extrem teuer zu stehen.
Damit das jedoch vermittelt werden kann braucht es: Leidenschaft, Kampfbereitschaft und den unbedingten Willen nicht nur Wahlen und Macht, sondern die MENSCHEN zu gewinnen. Vor allem jene zu Unrecht Vergessenen in der viel belächelten und umso mehr vernachlässigten „Mitte der Gesellschaft“.
Der so simplen wie bösartigen Erzählung der Rechten muss eine positive europäische Erzählung entgegengesetzt werden. Was das „Friedensprojekt Europa“ nach 1945 war, muss als Zukunftsversprechen neu gedacht und artikuliert werden. Dafür braucht es Herzblut, dafür braucht es Empathie, dafür braucht es den Einsatz von allen, die nicht verlieren wollen, was sie sicher glauben: ein geeintes, ein zukunftsfähiges und damit handlungsfähiges Europa, dessen Auftrag nicht mehr und nicht weniger ist, als den Rückfall in die Barbarei zu verhindern und die Lebensfähigkeit auf diesem Planeten zu erhalten.
Es geht schlicht: um sehr viel, wenn nicht sogar um Alles.
- Johannes Rauch
- 21. Sept. 2023
Samira (34) fühlt sich krank. Ihre Symptome würde sie gerne medizinisch abklären lassen. Allerdings ist ihre Hausärztin in Pension gegangen, drei Versuche, bei anderen Ärzten unterzukommen, sind gescheitert: „Tut uns leid, wir nehmen niemanden mehr.“ Bei einem Wahlarzt erhält Anna sofort einen Termin. Abklärungsgespräch, Untersuchung und Labor kosten 240 Euro, die Anna bezahlen muss. Von der Krankenkasse erhält sie 60 Euro zurück.
Georg (84) lebt alleine in seiner Wohnung im 3. Stock. Im Altbau gibt es keinen Lift. Bei einem Sturz hat er sich den Oberschenkel gebrochen und liegt im Spital. Nachdem klar ist, dass er nicht alleine in seine Wohnung zurück kann, wird ein Platz in einem Pflegeheim gesucht. Weil zehn Prozent der Pflegebetten in der Stadt aufgrund von Personalmangel geschlossen sind, wartet Georg 38 Tage auf der internen Station des Spitals auf einen Heimplatz.
Laura (23) ist Alleinerzieherin und arbeitet als Regalbetreuerin in einem Supermarkt. Natürlich ist es ausgerechnet Freitagnachmittag, als ihre Tochter Sophia (3) krank wird. Kinderarzt hat keiner mehr geöffnet, Laura fährt also in die Spitalsambulanz. Sie muss drei Stunden warten, bis die Kleine kurz untersucht wird. Dann wird sie mit einem Rezept nach Hause geschickt.
Hannah (34) arbeitet seit drei Jahren im Spital und hat diverse Abteilungen durchlaufen. Sie würde gerne eine Kassenpraxis als Allgemeinmedizinerin eröffnen. Weil sie unsicher ist, ob sie den Umstieg wirklich schafft, würde sie anfangs gerne Teilzeit weiter im Spital arbeiten. Nach unzähligen Gesprächen und Telefonaten stellt sich heraus: Mit einem Kassenvertrag geht das nicht. Auf dem Türschild steht nun: „Dr. med. Hannah X., Wahlarzt für alle Kassen, Ordination nur nach Vereinbarung“.
Österreichs Gesundheitssystem gehört zu den besten der Welt. Noch. Das wird sich ändern, wenn wir nicht rasch die richtigen Weichen stellen. Beim Finanzausgleich sitzen Bund, Länder und Gemeinden an einem Tisch und diskutieren über Geld und Aufgaben. Die gute Nachricht: Alle sind sich einig, dass wir eine Gesundheitsreform brauchen.
Der Finanzausgleich ist das komplizierteste aller Instrumente. Ausgerechnet das muss nun dafür herhalten, um das Gesundheits- und Pflegesystem in Österreich zu reformieren. Wie komplex dieses System ist, zeigt ein Blick auf die Finanzströme. Klar ist: Da wird zwangsläufig um Zuständigkeiten und Geld, um Verantwortung und Kompetenzen gestritten.

Für Grundsatzgesetzgebung ist der Bund zuständig, für Spitäler und Pflege die Länder, der niedergelassene Bereich ist in der Verantwortung der Sozialversicherung. Wer aber soll es richten? Der Minister für Gesundheit und Pflege. Er hat zwar nur 10% Zuständigkeit, aber 100% Verantwortung - jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung.
Wahrnehmung und Wirklichkeit
Armin Wolf fragte mich in der ZiB2: „Sie sind Minister einer Koalitionsregierung, die hat eine Mehrheit im Parlament und die kann Gesetze machen. Also machen Sie es sich da nicht ein bisschen leicht, wenn Sie die Verantwortung immer auch an die anderen Player schieben?“
Schauen wir uns die politische Realität in Österreich also an. ÖVP und Grüne haben seit 2020 eine Koalition und – völlig richtig – gemeinsam eine Mehrheit im Parlament. (Aber keine Zwei-Drittel-Mehrheit, die es für Kompetenzverschiebungen zwischen Bund und Ländern oder für einen Eingriff in die Selbstverwaltung der Sozialversicherungen bräuchte.)
Sechs Bundesländer sind ÖVP-regiert, drei von der SPÖ. In der Sozialversicherung (Selbstverwaltung!) streiten sich Arbeitgeber:innen (Wirtschaftskammer/ÖVP) und Arbeitnehmer:innen (Arbeiterkammer/SPÖ) um Macht und Einfluss. Auch die Ärztekammer mischt sowohl im Bund als auch in den Ländern kräftig mit.
Es erschließt sich rasch: Wenn auch nicht de jure, de facto braucht es für eine Gesundheitsreform einen Konsens aller wichtigen politischen Kräfte in Österreich. Gegen den Willen der Landeshauptleute, der Wirtschaftskammer und der Arbeiterkammer wird sie nicht stattfinden.
Wo viel Geld ist, wird viel Geld verdient
Gesundheit ist ein hohes Gut. Gesamtstaatlich werden in Österreich etwa 7 Milliarden Euro pro Jahr für die Pflege älterer Menschen aufgewendet (öffentliche Ausgaben, die privaten kommen dazu). Die laufenden Ausgaben für Gesundheit betragen insgesamt 51 Milliarden Euro. Sie steigen jährlich um etwa 5%. Weil der Anteil älterer Menschen zunimmt, auch weiterhin.
Mit diesen Ausgaben für die Gesundheit belegt Österreich einen Spitzenplatz im europäischen Vergleich. Dasselbe gilt für die Anzahl der Spitalsbetten und die Zahl der Ärztinnen und Ärzte pro 100.000 Einwohner:innen. Bei der „Gerätemedizin“, zum Beispiel bei CT- oder MRT-Untersuchungen, sind wir unangefochten Europaspitze.
Sehr niedrig sind hingegen die Ausgaben für Gesundheitsförderung und Prävention. Sie liegen unter 3 Prozent der Gesamtkosten (primäre und sekundäre Prävention). Die Anzahl der gesunden Lebensjahre ist in den vergangenen Jahren sogar zurückgegangen. Dabei belegt Österreich im EU-Vergleich einen sehr niedrigen Platz, trotz der sehr hohen Ausgaben im Gesundheitssystem.
Für die Behandlung ist man in Österreich in der Regel sozialversichert – entweder selbst- oder mitversichert. Ist man ohne Einkommen, übernehmen das Arbeitsmarktservice oder die Sozialhilfe (Länder) die Beiträge. Wird man krank, hat einen Unfall, braucht eine Operation, erwartet man umgehend und wohnortnahe qualitativ beste Behandlung – ohne Auf- oder Zuzahlung.
Weil das schon lange nicht mehr so perfekt funktioniert, ist jede:r vierte Österreicher:in zusatzversichert. Österreich ist Spitzenreiter bei den privaten Zuzahlungen – den so genannten Out-of-Pocket-Payments. 40 Milliarden entfallen derzeit auf Sozialversicherung und steuerfinanzierte Leistungen, 11 Milliarden werden privat bezahlt, zum Beispiel für Zusatzversicherungen und Zuzahlungen.
Wo viel Geld im Spiel ist, wird auch viel Geld verdient, aber nicht von allen und schon gar nicht von allen gleich viel. Auch das ist bei den Verhandlungen mitzudenken.

Fazit: Österreich gibt viel Geld für Pflege und Gesundheit aus, auch im internationalen Vergleich. Trotzdem ist die Personalnot groß, sind die Wartezeiten oft lang und die Frustration steigt. Drei Jahre Corona-Pandemie haben die Situation zusätzlich verschärft.
Wie soll das nun gehen mit der Reform?
Derzeit sagen die Bundesländer und auch der Städte- und Gemeindebund: „Finanzminister, wir wollen mehr Geld. Und zwar 7 Milliarden pro Jahr. Über Gesundheit und Pflege reden wir separat und zusätzlich.“ Der Finanzminister sagt: „Geld gibt es nur, wenn wir uns über die Ziele einig sind, zum Beispiel in einem Zukunftsfonds bei Kinderbetreuung und Klimaschutz. Und in Gesundheit und Pflege gibt es Geld nur, wenn sich auch strukturell etwas ändert.“
Der Deal lautet also: Geld gegen Reformen.
Mehr als zwei Milliarden Euro pro Jahr hat der Bund den Ländern und der Sozialversicherung für Gesundheit und Pflege angeboten. Das ist mehr, als es je zuvor in einem Finanzausgleich gegeben hat. Ein erheblicher Teil ist „frisches“ Geld, also zusätzliche Mittel, die vom Bund eingespeist werden. Ein anderer Teil betrifft die Verlängerung von Maßnahmen, die sonst auslaufen würden und dann ebenfalls von den Ländern zu tragen wären.
Die Eckpunkte der Gesundheitsreform
Geplant ist eine Strukturreform nach dem Grundsatz „digital vor ambulant vor stationär“, um die Qualität der Versorgung für die Patient:innen zu sichern. Statt in der Spitalsambulanz oder im Spital sollen Menschen von niedergelassenen Kassenärztinnen und -ärzten versorgt werden. Eine erste Abklärung soll zukünftig digital stattfinden – telefonisch über die Gesundheitshotline 1450, per Chat oder per App.
Auch Diagnose und Behandlung vieler chronischer Erkrankungen können über digitale Anwendungen unterstützt werden – etwa indem bei Diabetes Ernährung und Blutwerte systematisch erfasst werden oder bei Migräne Wetter, Alkoholkonsum und der Menstruationszyklus.
Seit einem halben Jahr werden die Reformvorschläge zwischen Bund und Ländern bereits verhandelt. Der Vorschlag des Bundes sieht eine Reihe von Maßnahmen vor, unter anderem:
Stärkung des niedergelassenen Bereichs: zusätzliche Kassenstellen vor allem in der Primärversorgung, mehr Angebot zu Randzeiten und am Wochenende, Modernisierung des Honorarkatalogs
Ausbau von Fachambulanzen in den Spitälern und ausgelagerter Spitalseinheiten, um eine stationäre Behandlung von Patient:innen zu vermeiden
Digitalisierung: Ausbau der Gesundheitshotline 1450, e-Health-Angebote wie Video-Konsultationen, verpflichtende Diagnosecodierung bei niedergelassenen Ärzt:innen, Anbindung von Wahlärzt:innen an e-Card und ELGA
Erweiterung des öffentlichen Impfprogramms
Gesundheitsförderung: zusätzliche Angebote, Weiterentwicklung des Programms „Frühe Hilfen“
Wirkstoffverschreibung für Medikamentenversorgung
Gesundheit und Pflege gemeinsam denken
Auch in der Pflege hat die Regierung zusätzliche Mittel angeboten, um die Versorgung sicherstellen. Geplant ist eine Aufstockung des bestehenden Pflegefonds auf mehr als 1 Milliarde Euro pro Jahr, um die Maßnahmen weiterzuführen, die mit der Pflegereform im vergangenen Jahr umgesetzt wurden.
Gesundheit und Pflege hängen eng zusammen: Mitarbeiter:innen in der Pflege entlasten Ärztinnen und Ärzte – nicht nur im Krankenhaus, sondern auch in Ordinationen und in der mobilen Pflege. Wenn genügend Pflegebetten vorhanden sind, können Menschen früher aus den Spitälern wieder zurück in ein Heim oder eine Station zur Übergangspflege.
Der Vorschlag des Bundes sieht aktuell vor:
Weiterführen der Gehaltserhöhungen für Mitarbeiter:innen
dauerhafter Ausbildungszuschuss von 600 Euro pro Monat
Ausbau des Community Nursing
24-Stunden-Betreuung: Weiterfinanzierung der Förderung
Zusätzlich sollen die Länder weiter jene Kosten ausgeglichen erhalten, die durch die Abschaffung des Pflegeregresses entstanden sind.
Von Gemeinsamkeiten und Meinungsunterschieden, Taktik und Säbelrasseln
Am Tisch liegen nun ein Angebot des Bundes über mehr als 10 Milliarden Euro für Gesundheit und Pflege in den nächsten fünf Jahren und ein Vorschlag für die größte Gesundheitsreform der letzten Jahrzehnte. Im Grundsatz herrscht zwischen Bund, Ländern und Sozialversicherung Einigkeit. Alle wissen um die Notwendigkeit von Reformen, auch über die Richtung der Reformen herrscht Übereinstimmung.
Dass viele inhaltliche Details noch offen sind, dass bis zum Schluss um Geld, Macht und Einfluss gerungen wird, ist nicht weiter verwunderlich. Niemand konnte erwarten, dass die Landeshauptleute beim Angebot des Bundes in Jubel ausbrechen – sie wären schlechte Verhandler:innen. Und das sind sie nicht.
Säbelrasseln gehört zu solchen Verhandlungen dazu, die eine oder andere ruppige Wortmeldung auch. Ob sich am Ende die Einsicht in die Notwendigkeit von Reformen, die staatspolitische Verantwortung durchsetzt, ist offen. Bewegen müssen sich alle. Denn Gesundheitsreform geht nur gemeinsam.